Traktandum 1
Eröffnung der Landsgemeinde
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Die Landsgemeinde wird durch den Landammann eröffnet. Die stimmberechtigten Männer und Frauen werden hierauf den Eid zum Vaterland schwören.
- Benjamin Mühlemann
- Landammann, Vorsteher Departement Finanzen und Gesundheit
Hochgeachteter Herr Landesstatthalter Hochgeachtete Damen und Herren der administrativen und richterlichen Behörden Hochvertraute, liebe Mitlandleute
Freiheit und Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Mit diesen Begriffen charakterisieren wir gerne unser Land. Es ist ein schönes Selbstverständnis. Und ein klarer Beleg dafür, dass wir zum privilegierten Teil der Weltbevölkerung gehören.
Jeweils am ersten Maisonntag wird dieses Privileg im Kanton Glarus spürbar und greifbar wie sonst kaum. Heute, wenn wir uns hier versammeln, um unter freiem Himmel die direkteste Form der Demokratie zu praktizieren. Wenn wir Glarnerinnen und Glarner zusammenstehen und gemeinsam unsere Zukunft gestalten.
Es freut mich sehr – und es ehrt mich –, dass ich Sie zur diesjährigen Landsgemeinde begrüssen darf.
Freiheit und Sicherheit, Stabilität und Wohlstand sind also unsere Privilegien. Aber – können wir darauf vertrauen, dass wir sie auch in Zukunft beanspruchen dürfen? Sind die Werte, die unser Land ausmachen, nachhaltig gesichert?
Die Antwort ist einfach: Sie sind es nur dann, wenn wir stetig um sie kämpfen. Wenn wir uns gemeinsam aktiv dem Wandel stellen.
Krisen zusammen bewältigen
Fakt ist, dass sich die Welt in rasantem Tempo verändert. Und dass sie im Moment wohl noch etwas komplizierter erscheint als sie ohnehin ist. Jedenfalls waren die Spannungen und Krisen der vergangenen Monate gross.
Denken wir etwa an die Pandemie, in der uns schonungslos vor Augen geführt wurde, welchen Wert die Freiheit hat. Es ist gerade einmal ein gutes Jahr her, seit wir hier noch mit ihren letzten Ausläufern konfrontiert waren. Am Schluss brauchte es eine grosse Portion Mut, alle einschränkenden Massnahmen konsequent aufzuheben. Entgegen vieler Warnrufe hat es die politische Führung unseres Landes getan.
Es ist nicht zuletzt der tief verankerten Sensibilität für die freiheitlichen Werte zu verdanken, dass die Schweiz die Pandemie verhältnismässig gut überstanden hat. Klar: zuweilen entstand heftiger Diskurs über das «Was» und das «Wie». Aber auch sehr viel Dialog und Wille, die schwierige Situation gemeinsam (!) zu bewältigen und Freiheit wie Sicherheit gleichermassen zu behüten.
Den Wohlstand mit Effort bewahren
Später im Jahr verunsicherte uns die drohende Energiemangellage. Dass wir trotz aller Bedenken ordentlich durch die kalte Jahreszeit kamen, ist viel Verantwortungsbewusstsein aber auch etwas Glück zu verdanken.
Nur: Das Bild ist ein trügerisches. Mittlerweile dürfte den Allermeisten bewusst sein, dass die Abhängigkeiten unseres Landes enorm gross sind. Die schweizerische Energieversorgung ist vernetzt mit Europa und mit der Welt, und wir funktionieren nur dank engster Zusammenarbeit mit unseren Handelspartnern.
Wollen wir unabhängiger und somit freier sein, müssen wir gemeinsam einen Effort leisten. Jeder und jede kann zu höherer Versorgungssicherheit beitragen. Sei es mit umsichtigem Verhalten beim Verbrauch; sei es mit Investitionen in eigene Anlagen; oder sei es auf der politischen Ebene mit beherztem Fördern von Innovation und entschlossenem Stärken inländischer Produktion. Mit Kreativität und Courage lässt sich unser Wohlstand bewahren.
Gemeinsam stabile Verhältnisse schaffen
Ein weiteres Beispiel dafür, wie rasch es für unser Land ungemütlich werden kann, erlebten wir in den letzten Wochen. Zwar konnte mit der staatlich unterstützten Rettung der Credit Suisse eine wirtschaftliche Katastrophe abgewendet werden. Der Schaden für den Finanz- und Wirtschaftsstandort Schweiz ist aber enorm.
Politiker stellen nun allerhand Forderungen, wie die CS-Rettung aufzuarbeiten sei. Viele sind parteipolitisch motivierte Schnellschüsse. Sie gefährden die Stabilität und Glaubwürdigkeit des Finanzplatzes. Statt noch mehr Verunsicherung zu schüren, ist die Politik – sind wir – angehalten, gemeinsam stabile Verhältnisse zu schaffen. Darauf ist nicht nur der Bankensektor angewiesen, sondern unsere gesamte Wirtschaft.
Ohne Stabilität keine Arbeit, keine Arbeitsplätze, kein Wohlstand, keine Sicherheit, keine Freiheit.
Für eine friedliche Weltordnung einstehen
Hochvertraute, liebe Mitlandleute. Nicht weit von hier können die Menschen von Privilegien wie den unsrigen nur träumen. An der Ostgrenze von Europa herrscht ein grausamer Krieg. Seit mehr als einem Jahr bricht in der Ukraine unermessliches Leid über unschuldige Familien herein. Kinder sterben oder werden verstümmelt. Die täglichen Nachrichten über das völlig unnötige Elend sind kaum zu ertragen. Und niemand weiss, wo das alles noch hinführt.
Gleichzeitig dürfen wir hier frei und selbstbestimmt raten, abstimmen und wählen. Der Blick auf diesen gewaltigen Kontrast soll uns Demut lehren. Und er soll uns motivieren, unsere traditionellen Werte zu leben – unser Einstehen für Freiheit und Sicherheit noch zu verstärken. Sei es im Kleinen, wenn wir für unseren Kanton unsere Beschlüsse fassen. Sei es aber auch im Grossen, indem wir eine angemessene Rolle spielen für eine friedliche Weltordnung.
Die Neutralität in die Zukunft führen
Statt eine Werbeoffensive anstossen müssen wir jetzt rasch eine fundierte, breite Debatte über unsere Neutralität führen und uns eine geschickte Strategie zurechtlegen. Der Aggressor Russland hat jedenfalls eine. Und die zielt zweifellos darauf ab, die westliche Koalition zu spalten.
Die Antwort der europäischen Staaten kann nur das Bündeln der Kräfte sein, um die demokratischen Werte entschlossen zu verteidigen. Steht die Schweiz dabei abseits, gelten wir als Trittbrettfahrer. Und es ist ein Spiel mit dem Feuer, für den Ernstfall selbstverständlich auf die Unterstützung der Nachbarn zu zählen, ohne vorher eigene Beiträge zu leisten.
Überprüfen wir also unser Konzept der Neutralität kritisch und überführen wir es in die Zukunft! Oder wie es alt Bundesrat Kaspar Villiger kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung treffend formuliert hat: «Wir müssen dafür sorgen, dass sich das Bild des egoistischen Sonderlings nicht verfestigt.»
Das heisst mitnichten (!), dass wir das Prinzip Neutralität aufgeben müssen. Die Neutralität ist tief in unseren Köpfen und Herzen verankert, und sie hat sich historisch bewährt, wie Villiger weiter schreibt. «Gerade, weil sie stets flexibel gehandhabt wurde: mal strikter, mal offener. – Die Neutralität ist anpassungsfähig, ohne dass ihr Kern verleugnet werden muss.»
Meine Damen und Herren, nicht nur unsere Reputation steht auf dem Spiel, sondern unglaublich viel mehr. Ziehen wir die richtigen Schlüsse daraus, passend zur aktuellen Friedensordnung!
Errungenschaften pflegen und festigen
Keine Option ist jedenfalls das Stehenbleiben. Das war es für uns Glarnerinnen und Glarner ohnehin noch nie. Vor 175 Jahren hat die ausserordentliche Landsgemeinde am 13. August 1848 fast einmütig Ja gesagt zur neuen Bundesverfassung.
Laut historischen Quellen haben die gut 4’000 Stimmberechtigten damals den Entwurf mit nur einer einzigen Gegenstimme angenommen – jener des Oberurner Modellstechers Adelrich Stucki, heisst es. Weshalb er dagegenhielt, ist nicht überliefert. Jedenfalls war Glarus derjenige Kanton, welcher sich mit Abstand am deutlichsten zur neuen Bundesverfassung bekannte.
Die Errungenschaften aus dem Gründungsjahr der modernen Schweiz prägen unser Land bis heute: Die föderalistische Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, freie Wahlen und die wesentlichen Grundrechte für Bürgerinnen und Bürger gehören zu den wichtigsten Pfeilern der Verfassung.
Wir sollten sie in dieser komplizierten Welt nicht einfach nur verwalten, sondern gemeinsam pflegen und festigen – uns mit dem selben Gestaltungswillen für einen starken Kanton und ein starkes Land einsetzen. Mit Optimismus und Glaube an Fortschritt, aber ohne unsere Wurzeln oder Traditionen zu vergessen.
Ehrendes Andenken an Jakob Brauchli
Zu den Menschen, die mit viel Verve gestalteten, gehörte unser ehemaliger Ratsschreiber Jakob Brauchli. Er hat am 5. Januar 2023 im 91. Lebensjahr seine letzte Reise angetreten. Während mehr als 30 Jahren leitete er ab Ende der Sechziger- bis Ende der Neunzigerjahre die Staatskanzlei unseres Kantons.
Angetrieben von seinem grossen Interesse für juristische Fragen und geprägt von seinem hohen Demokratieverständnis unterstützte er Regierungsrat und Landrat überaus pflichtbewusst in ihren Tätigkeiten.
Auch ausserhalb seiner beruflichen Funktionen und noch weit über die Pensionierung hinaus engagierte sich Jakob Brauchli mit Herzblut für die Öffentlichkeit. Er hat einen grossen Teil seiner Schaffenskraft in den Dienst von Land und Volk unseres Kantons gestellt. Dafür wollen wir ihm dankbar ein ehrendes Andenken bewahren.
Verabschiedung von Hansjörg Dürst
Mit grossem Dank für seine Arbeit im Dienste von Land und Volk verabschieden wir heute unseren langjährigen Ratsschreiber in den Ruhestand. Als erst 39-Jähriger wurde Hansjörg Dürst im Sommer 1997 durch den Landrat zum Ratsschreiber gewählt. Schon zuvor hatte er als Sekretär der Sanitäts- und Fürsorgedirektion für die Kantonsverwaltung sowie als Rechtspraktikant für die Gerichte gewirkt. Und so darf er heute auf beinahe 40 Jahre Tätigkeit für unseren Kanton zurückblicken.
Die Staatskanzlei hat er in all den Jahren konsequent weiterentwickelt zu einer gut funktionierenden Drehscheibe innerhalb der Verwaltung. Übersicht, Vermittlungsgeschick und Gelassenheit zeichnen die Persönlichkeit Hansjörg Dürst aus. Hansjörg – wir wünschen Dir viel Freude und Erfolg bei Deinen vielfältigen Aktivitäten ausserhalb des Berufslebens. «Tanggä viielmal für Dini Unterstützig!»
An der nächsten Landsgemeinde wird sein Nachfolger Arpad Baranyi hier vor mir sitzen. Er übernimmt die Leitung der Staatskanzlei und seinen Platz im Rathaus im Sommer. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Hochvertraute, liebe Mitlandleute, lassen Sie uns jetzt raten, mindern und mehren. In Freiheit und Verantwortung. Es gelingt uns bestimmt auch heute, die traktandierten Wahl- und Sachgeschäfte zum Nutzen und Gedeihen unseres Kantons zu treffen.
An der denkwürdigen Landsgemeinde vor 175 Jahren warb Landammann Caspar Jenny mit markigen Worten für ein Ja zur neuen Bundesverfassung. Er erhoffe sich davon «eine einige, starke, die reinste Volksfreiheit darstellende, die edelsten Blüthen der Humanität und Kultur treibende schweizerische Eidgenossenschaft». Dies sei sein Wunsch.
Ich wünsche uns einen ebensolchen Kanton.
In diesem Sinne bitte ich für Land und Volk von Glarus um den Machtschutz Gottes und erkläre die Landsgemeinde 2023 als eröffnet.